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Motorrad und Gesellschaft, Individuum und Motorrad – eine Skizze

Ralf Schneider, Redakteur bei "Motorrad!

Bis Mitte der 1950er-Jahre waren wir Deutschen in unserem Umgang mit dem Motorrad eine verspätete, weil immer wieder unterbrochene Nation. Als Teil einer massenhaften Faszination an Mobilität, Motorisierung und Geschwindigkeit hatten das Motorrad und das Motorradfahren im Deutschen Reich mehrere Anläufe genommen und Aufschwünge erlebt: zuerst bis zu den ersten Steuergesetzen 1907, dann in der Phase wirtschaftlicher Konsolidierung nach Weltkrieg und Hyperinflation ab November 1923. Weiterhin nach der Weltwirtschaftskrise, als das Aufrüstungsprogramm der nationalsozialistischen Regierung und ihr ungehemmtes „deficit spending“ eine gleisnerische wirtschaftliche Scheinblüte hervorbrachten. Jeder dieser Aufschwünge wurde brutal gestoppt.

Zuletzt aber, nach dem Zweiten Weltkrieg und der Währungsreform 1948, als NSU der größte Motorradhersteller der Welt wurde und Dutzende deutscher Hersteller von Ardie bis Zündapp die Nachfrage befriedigten, beendete die Mehrzahl der Motorradfahrer selbst den weiteren Aufschwung ihres Vehikels.

Das Bemerkenswerte, ja fast Ungeheuerliche an diesem Diagramm ist die Tatsache, dass es Bestandszahlen zeigt, nicht etwa Verkaufszahlen. Es geht hier um Motorräder, die bereits gekauft, bezahlt, zugelassen und gefahren worden waren. Und es möge bitte niemand glauben, dass diejenigen Maschinen, die in dieser Statistik nicht mehr auftauchen in ihrer Mehrzahl eingelagert und sorgsam verwahrt wurden. Die edlen, teuren vielleicht, die sprichwörtlichen 500er-BMW, die so viele ältere Herren in ihren späteren Erzählungen besessen haben wollten. Die anderen aber wurden zu Zehntausenden auf den Schrott geworfen. Eine Entwicklung, die in den 20er-Jahren begonnen hatte, war vollendet und das Motorrad stand vor dem Ende.

Wie konnte das geschehen? Was ist da in den Köpfen der Leute vorgegangen? Angehörige der ersten Nachkriegs-Fahrergeneration geben immer dieselbe Antwort: „Wir wollten ein Dach über dem Kopf haben.“ „Wir wollten ein Dach über dem Kopf haben.“ „Wir wollten im Trockenen sitzen.“ Man fragt sich, ob dieser Spruch damals in den Schulen gelehrt wurde. Tatsächlich weist er wohl eher auf ein tief empfundenes Schutzbedürfnis verwundeter Seelen hin, das als Folge der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs auch diejenigen erfasste, die nicht selbst heimat- und wohnungslos geworden waren.

Doch auch der höhere Status des Autofahrers spielte eine wichtige Rolle, ja sogar eine Doppelrolle, denn sein Träger demonstrierte nicht nur wirtschaftliche, sondern auch moralische Überlegenheit. Dieses Eindrucks kann ich mich nicht erwehren, seit ich als junger Motorradfahrer denen begegnet bin, die zum Auto gewechselt waren. Sie saßen am Steuer gediegener Limousinen und an den Hebeln der Macht und konnten es nicht fassen, dass Gott den Motorrädern in der Zwischenzeit eine überlegene Beschleunigung verliehen hatte. Volljährig mit 18 und einen Mercedes 280 E überholen – das erste konnte man noch als wahltaktisches Manöver der Sozis kritisieren, um die Stimmen ihrer jungen Wähler zu gewinnen. Das zweite aber war ein Verstoß gegen eine von höheren Mächten geschaffene Ordnung, die bis ins Verkehrsrecht durchschlug. Oder wie sonst dürfen wir uns erklären, dass Autos in Überholverbotszonen Einspurfahrzeuge überholen dürfen, dies umgekehrt jedoch nicht gilt? Bis heute nicht. An der beim Überholvorgang entstehenden Gesamtbreite kann es jedenfalls nicht liegen.

Schutzraum, Prestigeobjekt, Ausweis der Seriosität – ein Auto war um das Jahr 1960 für die Mehrheit das Ziel der Wünsche. So kam es, dass ein junger Mann des Jahrgangs 1940, der beim Motorrad-Grand-Prix auf dem Solitude-Ring 1952 mit Begeisterung den überraschenden Sieg des jungen Werner Haas auf der 125er NSU Rennfox gesehen hatte, im Jahr 1958 noch nicht einmal den Motorradführerschein machte. Bis heute nicht, obwohl er stets motorradaffin geblieben ist und sich zahlreiche Motorradszenen in sein Gedächtnis eingebrannt haben.

So kam es auch, dass ein junger Mann in den 50er-Jahren keine BMW R 25 kaufte, stattdessen aber ein Grundstück, auf dem heute drei Einfamilienhäuser stehen, die allesamt von ihm, seinen Kindern und Enkeln bewohnt werden. Den Traum von der BMW hat er nie verwirklicht. Wir würden nach einer kurzen Sammlung viele weitere Beispiele für einen solchen Verzicht, eine solche Präferenz von Automobil und Eigenheim finden – es hat lange gedauert, bis ich eine Ausnahme finden konnte, welche diese Regel bestätigt. Hinter jedem dieser Beispiele steht die nicht ausgesprochene Ansicht, dass ein Motorrad diese Errungenschaften verhindert hätte.

Hätte es wirklich? Wäre eine unschuldige BMW R 25 für rund 2000 Mark tatsächlich die ruinöse Alternative zur Prosperität einer Familie gewesen? Kaum vorstellbar, zumal sie nach 1955 gebraucht für einen Bruchteil dieses Betrags zu haben war. Aber offenbar typisch für die damalige Sichtweise.

Dann kamen wir. Meine Generation. Jahrgang 1960 und ein paar Jahre früher oder später. Geboren mit dem Rücken zum Zweiten Weltkrieg, der mir immer schon viel weiter entfernt schien, als es der gleich langen Zeitspanne von 1960 bis 1975 entspricht. Pubertät und Jugend erlebten wir in den bunten 70er-Jahren, unsere fahrerische Sozialisation auf höchst anspruchsvoll zu bewegenden 50ern. Sie waren selten schwarz oder graublau, sondern orange, knallrot oder leuchtend grün lackiert. Eine starke Symbolik. Die Nachahmung der Sunburst-Lackierungen von Gibson-Elektrogitarren zierte gar den Tank der BMW R 90 S. Zehn Jahre früher wäre das undenkbar gewesen.

Und das Dach über'm Kopf? Wenn es regnete, warteten wir mit dem Losfahren bis es aufhörte oder wir wurden eben nass. Und wenn es schneite oder beißend kalt war, blieb das Motorrad stehen. Eine Freundin oder ein Freund, die ein Auto hatten, mit dem man mitfahren konnte, ein Bus oder Zug fand sich immer. Oder ein alter VW Käfer für ein paar Mark fuffzich. Wo war das tief gehende, existentielle Problem mit dem Motorrad?

Klar, wir wurden in wirtschaftlich goldene Zeiten hineingeboren; das erleichterte es uns, Motorrad zu fahren, ohne auf das  Auto, später auf das Eigenheim verzichten zu müssen. Andererseits: Hatten nicht auch die Altvorderen genügend Mittel gehabt, ihre motorisierten Zweiräder Mitte der 50er auf den Schrott zu schmeißen? Dabei waltete auch nicht die reine ökonomische Vernunft.

So komme ich zu dem Schluß, dass die Baby- und Motorrad-Boomer vor allem freier im Denken waren als ihre Eltern. Ihr größtes Kapital war nicht die D-Mark, sondern eine Ahnung davon, dass die Schönheiten und Annehmlichkeiten der Welt nicht dazu da waren, auf sie zu verzichten. Wir sollten es doch besser haben, als unsere Eltern. Und obgleich unsere eigenen Vorstellungen von der Art dieses „besser“ dabei nicht vorgesehen waren; wir hatten sie. Da keimte ein Grundvertrauen in die eigene Existenz, das man den Vätern und Großvätern aberzogen, ausgetrieben, fortgeprügelt, weggebombt und kaputtgeschossen hatte. Erst später ist mir klar geworden, dass die Ausläufer dieser von Gewalt geprägten Sozialisation der Eltern auch nach uns gegriffen haben. Heute bin ich froh um jeden, der den einstigen Keim als kräftigen Sproß an seine Kinder weitergeben kann.

Wer unsere Motorräder als Freizeitobjekte anspricht, unser Motorradfahren als bloß hedonistisch sieht, wird der Ernsthaftigkeit und Seriosität nicht gerecht, mit der wir uns fahrerisch und technisch ausgebildet haben. Eine große Zahl von uns entwickelte eine echte Leidenschaft für das Motorrad, die bis heute anhält und den „Markt“ trägt. Das führt uns zu der Frage, was in unserem Inneren uns dazu bringt, einer bloßen Art der Fortbewegung soviel Hingabe, Zeit und Geld zu opfern?

Omnipotenzphantasien unreifer Männer, die Kompensation unerfüllten sexuellen Begehrens oder geringen Selbstvertrauens werden von Kritikern oft als Motivation für das Motorradfahren angeführt. Sicherlich geht der Versuch, solche psychischen Probleme abzuarbeiten, häufig damit einher. Wie auch mit anderen Ersatzhandlungen. Meiner Ansicht nach erklären sie aber nur, wie der eine oder andere Motorrad fährt und nicht, warum.

Ich habe dazu eine These, die sicherlich nicht unumstritten bleiben wird. Und ohne tiefen- oder entwicklungspsychologisch geschult zu sein, glaube ich, die Antwort in dem zu finden, was wir jetzt sehen werden (eingespielt wird eine kurze Filmszene, die Anfangssequenz aus „Der letzte Mohikaner“).

Man kann diese Szenen als Motorradfahrt verstehen. Man kann auch umgekehrt die folgende wahre Begebenheit als Jagdszene interpretieren. Da cruist ein friedfertiger „best ager“ auf seinem Motorrad durch die Lande, gefolgt von zweien seiner Freunde. Vor der Gruppe liegt ein Anstieg mit zwei schönen Kurven, ein Bild von einer verheißungsvollen Strecke bietet sich den dreien dar. Plötzlich bemerken sie das kaum merkliche Taumeln eines vorausfahrenden Motorradfahrers, ein winziges Zeichen von Unsicherheit. Auf die drei wirkt es wie ein Alarmzeichen. Alarm in des Wortes ursprünglicher Bedeutung, „a l’armi“, zu den Waffen. Zurückschalten, durchbeschleunigen, Blinker setzen, links vorbei, die folgende Kurve hart anbremsen, davonfahren. Die ersten zwei sind vorbei; sie lassen die Beute bereits waidwund zurück. Der dritte kann erst ausgangs der Kurve überholen, aber genau dieses Manöver gibt dem Wild den Gnadenstoß. Es sackt in sich zusammen. 12000 Jahre früher hätte es am Abend einen üppigen Braten zu essen gegeben.

Es ist mir klar, dass diese Analogie spätestens ab dem Punkt auf Krücken geht, wo wir uns den vorausfahrenden Motorradfahrer als Opfer kannibalischer Gelüste vorstellen müssen. Doch was davor geschah, das Erkennen, Anspringen und in drei Stufen angesetzte Erlegen der Beute, ist der Ausdruck puren archaischen Jagdtriebs. Er wurde lediglich in ein modernes Handlungsrepertoire übersetzt. Ohne Absprache bei drei Individuen gleichzeitig. Es soll mir bitte niemand erzählen, dass hier nicht die Verhaltensmuster einer eiszeitlichen Jägerhorde durchschlugen. Oder die viel älteren eines Wolfsrudels.

Selbst wer auf dem Motorrad lieber „friedlich herumschnuffelt“ – ich darf das so nennen, seit ein Kollege seine bevorzugte Art des Motorradfahrens selbst so bezeichnet hat – übt damit Fertigkeiten, die seine urzeitlichen Vorfahren in langen Zeitspannen bei der Jagd erworben haben: das rasche Erfassen von verschiedenen Bewegungen in Relation zur eigenen Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit. Die Antizipation von etwas, was ich Bewegungskonstellationen nenne, und die blitzschnelle Ausführung von Handlungen, welche die eigene Existenz inmitten dieser Konstellationen sichern. Sei es durch Vermeidung von Gefahren, das Erreichen eines Ziels  oder den Erwerb von Beute.

Vor dem Jagen kam das Laufen. Unsere drei Jäger im eben gesehenen Filmausschnitt, also die Schauspieler, haben die tiefe innere Freude des Menschen an der schnellen Bewegung überzeugend dargestellt, trotz aller Anstrengung. Wie ungebändigt und zugleich präzise gesetzt ihre weit ausgreifenden Schritte und Sprünge wirken! Sie sind vollkommen mit sich selbst im Reinen. Noch schöner kommt diese Freude auf natürliche Weise zum Ausdruck. Im Frühsommer dieses Jahres habe ich bei einer Wanderung durch das Monbachtal bei Bad Liebenzell vier halbwüchsige Jungen dabei beobachtet, wie sie den gar nicht wegsamen Weg in beeindruckendem Tempo und völliger Sicherheit hinabgesprungen sind – der eine von ihnen sogar barfuß. Wenn sie langsame Wanderer überholten, stimmten sie ihre Laufwege rasch auf einander und die Überholten ab. Und als sie den Letzten einer vorausgehenden Gruppe eben um einen Felsvorsprung verschwinden sahen, steigerten sie im Reflex der Beuteerkennung gar noch ihr Tempo. Die vier würden sicherlich ausgezeichnete Motorradfahrer werden. Zu glauben, dass sie dabei glücklichere Momente erleben werden als im Monbachtal, fällt mit bei aller Motorradbegeisterung schwer.

Soviel zum archaischen Ursprung des Motorradfahrens. Wo aber, so werden sich viele von ihnen fragen, findet sich darin die zivilisatorische Komponente, außer in der Technik unserer Maschinen und der StVO?

Was als Laufen, als gegengleiches Vor- und Zurückschwingen von Armen und Beinen begann, haben wir Menschen zu komplexen Bewegungsformen weiterentwickelt: Kampftechniken, ebenso wie Produktionsabläufe, Tanz, Schauspiel, Malerei. Hier sind wir längst in einen Bereich eingetreten, in welchem die Bewegung zu einer Ausdrucksform des Geistigen geworden ist. Indem wir koordinieren, was unserem Körper an Ausdrucksmöglichkeiten zu Gebot steht, gebrauchen und üben wir unseren Geist. Dafür müssen wir noch nicht einmal bis zu den erhabensten Kunstformen emporsteigen. Die Choreographie, welche dem Schmieden eines Nagels oder dem virtuosen Würfeln einer Zwiebel zugrunde liegt, ist ein geistiger Akt. Ihre präzise Ausführung erfordert lange Übung; diese diszipliniert zu leisten, ist wiederum ein geistiger Akt. Der Begriff „Handwerk“ blendet diesen Aspekt völlig aus, „Handwerkskunst“ bringt den Respekt, der hier geboten ist, besser zum Ausdruck. Und manchmal schaffen wir es, durch die ständige Wiederholung eines Handlungsablaufs in einen erhabenen Geisteszustand zu geraten.

Auch Motorradfahrer üben ständig die immer gleichen Bewegungsfolgen, um Kurven nach rechts oder links zu fahren, zu beschleunigen oder zu bremsen. Die Wiederholung gibt ihnen Sicherheit, sie verschafft ihnen eine Heimat und einen Ruhepunkt in der Bewegung. Diesen scheinbaren Widerspruch können wir nur im Geist erleben. Mitten in einem komplizierten Neben- und Nacheinander von Aktionen wird das Dasein plötzlich ganz einfach. Die technisch erzeugte Mühelosigkeit und mitunter schon übersteigerte Dynamik des Motorradfahrens ändern nichts daran, dass es einem Grundbedürfnis des Menschen entspringt und zugleich sein Bedürfnis nach höher entwickelten Ausdrucksformen befriedigt. In seinen besten Momenten vermag es, ihn zu einem weit entfernten Ziel zu bringen: zu sich selbst.